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Vielleicht klingt die Frage pietätlos. Darf man den Starman in Verbindung bringen mit ganz irdisch-materiellen Beziehungen zwischen Wirtschaftsunternehmen und deren Kunden? Und was hat man davon? Ein Gedankenspiel.

Content wird wertvoll, wenn er Beziehungen herstellt, das heißt Menschen verbindet. Das ist aber nicht einfach, denn der Mensch ist ein komplexes Wesen. Besonders der konkrete, individuelle Mensch, weniger der statistisch als „Zielgruppe“ vage umfasste.  Individuelle Kunden sind schwer zu fassen. Jeder Mensch hat acht Ichs behauptet Philosoph Richard David Precht. Oder: Jeder Mensch ist auch ein Anderer, wie man mit Jacques Lacan sagen könnte.  Und dazu spielt er noch verschiedene Rollen: Der Vater ist auch Mann. Die Mutter ist auch Geliebte. Der Konsument ist auch Kritiker, Träumer, Freund. Und jedes Ich ist ein vorläufiges. Dazu hat uns David Bowie einiges zu sagen.

Zwischen großen Künstlern und ihren Fans gibt es in manchen Fällen soviel Identifikation, Intimität und Verehrung, wie sie sich Unternehmen nicht einmal zu erträumen wagen in den Beziehungen zu ihren Kunden. Apple gelingt das vielleicht, phasenweise. Oder Louis Vuitton, Chanel, Dior. David Bowie jedenfalls gelang es über 50 Jahre hinweg, diesen lebenswichtigen Kontakt aufrecht zu erhalten. Es gelang ihm über diese ganze Zeit, immer wieder Junge anzusprechen, ohne die Fans der ersten Alben dabei zu verlieren.

Ich muss gestehen, dass ich über David Bowie noch nie so viel angesehen und gelesen habe wie in den letzten Tagen. Ich mochte seine Musik, aber ich war kein echter Fan. Außer von Major Tom vielleicht. Dass die BBC „Space Oddity“ zur Vertonung eines Apollo-11-Zusammenschnitts verwendet hat, war mir aber schändlicherweise entgangen.

Apropos Mond: Bowie, sagte der Autor und Musiker John Harris (in der BBC-Doku „David Bowie – Der Weg zur Legende“), habe den Kosmos in der Bushaltestelle gesehen. Diese Aussage war es auch, die mich zu diesem Artikel inspiriert hat. „Bowie hatte die Magie, in der Bushaltestelle den ganzen Kosmos zu sehen“.

Denn das ist doch der Punkt: im Detail das Ganze, im Ganzen das Detail. Der Mensch als Ganzes, Großes – und als Detail, Kleines. Und dazwischen: Eine vielstimmige, vielsinnig oszillierende Person. Wenn es Künstlern wie Bowie über Jahrzehnte gelingt, das Publikum so intensiv anzusprechen und abzuholen, dann vielleicht, weil er sie als ganze Menschen wahrnimmt und anspricht – in ihrem Alltag, mit Ihren Träumen, aber auch mit ihren kleinen und großen Ängsten? „Your circuit’s dead, there’s something wrong„. Als Bowie-Fan ist man nicht Publikum, nicht Konsument. Man darf, man muss der sein, der man sein möchte.

Das wäre also ein Ansatz zu fragen, was Unternehmen von Bowie lernen können. Ich will das Thema mit weiteren Zitaten einkreisen.

Nicht nur „Alle Kunst ist instabil„, wie Bowie sagte (2). Wir wissen heute: Auch jedes Leben, jede Realität. Der Mensch ist kein besonders leicht fassbares Wesen. Wir erleben und gestalten uns aus vielschichtigen Identitäten, aus buntesten Flicken zum nie vollendeten Patchwork. Besonders als junge(r) Erwachsene(r) musst Du Dich heute besonders flexibel neu definieren, positionieren, verhalten und nicht festlegen lassen.

Ich kann nicht umhin, ständig an mich zu denken.“ Auch das sagte Bowie (2). Er ist dabei gezwungen, ständig um sich zu kreisen, an sich selbst zu denken – nicht aus Narzissmus, sondern um seine Identität zu modellieren, um als Ich zu existieren, die richtige Rolle für sich zu finden. Je schneller sich die Welt um uns bewegt, um so mehr gilt dies auch für uns andere, deren Bühne nur der kleine Alltag ist.

Jeder muss sich ständig weiter erfinden. Nur in der Fiktion unseres Ich, die Kreation voraussetzt, leben wir – in einer Umgebung, die ständig Neues von uns verlangt, in der unsere Stellung ständig angegriffen wird: von Jüngeren, von Klügeren, von Besseren, von Schnelleren. In einem disruptiven Umfeld, in vielfach gebrochenen Verhältnissen, aus Angst vor Einsamkeit und Verlust, möchten wir  uns trotzdem sich als Kontinuum begreifen. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als selbst Künstler zu sein: denn ein halbwegs akzeptables Selbst gibt es nur als Erzählung, also künstlich. Wozu wir fleißig und gerne als Bühne auch soziale Medien nutzen.

Wie der nicht zu Ende getextete Satz (ein Ausstellungstitel) „David Bowie is“ (2) ist das Leben von Konsumenten und Kunden heute offen und unvollendet. Deshalb gilt auch: „Der Kunde ist “ – nämlich unvollständig, unvollendet.

David Bowie Zeichnung von SCAPIN / pixabay.com

Darauf könnte sich aktuelles Content Marketing einstellen. Der Kunde ist nicht nur Käufer, er ist eine Geschichte mit offenem Ende. Keine fixierbare „Persona“, sondern eine komplexe Persönlichkeit mit fragiler Vita. Vielleicht sollte man im Content Marketing über kartierte Personas hinausgehen, sich also anregen lassen von so etwas wie offeneren Kundenstories. Glatte Geschichten jedenfalls werden der Lebenssituation nicht gerecht. Offene Kundenstories können Fortgänge mit einbeziehen und für Wendungen offen sein, die sich aus mehr speisen als aus rationaler Abwägung, Preis- und Nutzenvergleich, Biografie-Standards.

In den Medien sehen wir, wie sich heutige Menschen gern abholen lassen. Nicht eindimensional, sondern vielschichtig. Nicht verharmlosend, sondern der Wirklichkeit ins Auge sehend. Nicht zu eng festgelegt, sondern als Charakter, sprich mit Brüchen, Ecken und Kanten.

Wie könnte man die Ergebnisse dieser Gedankenspiele zusammenfassen? Vielleicht so:

Raum schaffen: Bowie hat die Phantasie erweitert und Räume erobert für sich und seine Fans: Raum, der „Menschenmöglichkeiten“ bietet (Peter Kümmel in der „Zeit“ No.3/2016). Er kannte die geistige wie seelische Enge, in der Teenager wie er lebten und leben, und aus der sie unbedingt fliehen wollen: Eltern ohne Verständnis, mehr Verbote als Entwicklungsperspektiven. „Inspiration 2001 – Die Isolation sprach mich an … Suburbia: Jeder verstand das Fliehen aus …. Verzweiflung, Blindheit, in der wir aufwuchsen … Anything but the place I came from“ (Interview in „David Bowie Hang On To Yourself documentary“).

  • Sprechen Sie mit Ihren Zielgruppen auch über unorthodoxe Themen: Solche, die mit Träumen, Unsicherheit, Ängsten, Schwächen, aber auch Visionen zu tun haben.
  • Der Kunde ist Künstler – Lebenskünstler. Im bleibt heute gar nicht andres übrig. Sprechen Sie ihn auch so an.

Vorreiter sein, Denkanstösse bieten: Bowie hat Potenziale sichtbar gemacht mit seinen Figuren, Rollen, Verhaltensweisen. Nicht als Vorbild, aber als Beispiele, nicht um festzulegen, sondern um zu befreien. Er hat Denk- und Handlungsspielräume als so etwas wie ein Navigator erschlossen (Peter Kümmel in der Zeit).

Schaffen Sie es, disruptive Inhalte zu bieten? Inhalte, die für Ihre Zielgruppe die Zeit anhalten oder die Erde beben lassen? So etwa, wie es Carolyn Cowan, Bowies Body Painter beim Videodreh zu Tin Machine, über ihn sagte:

Wherever one went with him, there was always a seismic shift. Space and time changed.“ (3)

  • Erschliessen Sie Ihren Zielgruppen neue Einsichten und bieten Sie bewegende Inhalte. Der Kunde als Lebenskünster braucht das.

Wahrhaftig sein: Als Kunstfigur und Künstler war Bowie bewusst anti-authentisch. „Sollte ich versuchen, ich selbst zu sein? … Oder wäre es einfacher, wenn ich damit nicht fertig werden kann, jemand anders zu sein?“ Gerade deshalb war er in seiner Performance wahrhaftig und nicht manipulativ. Seine Texte und Shows reflektierten eine fantasiereiche, aber durchweg unromatische Welt voller Brüche. Bowie bot keine süße Utopie, sondern nannte durchaus den Preis  der Freiheit und der Entgrenzung. Wahrhaftigkeit braucht Mut. Freiheit aushalten, heißt Ängste aushalten.

  • Offenheit, Anfassbarkeit, Transparenz, Fehler eingestehen. Wahrhaftigkeit ist manchmal das Gegenteil von Authentizität.

Selbstbewußtsein und Zuversicht: Bowie lehrte in seinem ganzen Auftritt, wie man Ängste aushält in einer unsicheren Welt. Wie man der Realität ins Auge sieht und sich in ihr behauptet, und zwar ohne sein eigenes Potenzial zu unterschätzen oder aufzugeben, im Gegenteil.

Im Gegensatz zur Werbung. Sie beutet Wünsche aus, indem sie den kurzen Weg zur Wunscherfüllung bietet: Shortcuts zu Status, Genuss, Sicherheit, Komfort, Erlebnis, sogar Abenteuer. Alles käuflich? Der Mensch hat heute gelernt, Idyllen zu misstrauen. Zwar nimmt er einfache Versprechen manchmal noch gern an. Aber er ist sich bewusst, dass die Lust geborgt ist. Er ist dem Verkäufer dafür nicht mehr lange dankbar.

Der Mensch ist keine Buyer Persona – legen wir ihn nicht darauf fest

Der Mensch kann nicht daraufhin vermessen werden, wer er ist – wie es Personas gerade erledigen sollen:

  • „Wer sind die typischen Nutzer auf einer Website?“
  • „Welche Inhalte, Funktionen und Services wünschen sich die Nutzer?“
  • Alter, Ausbildung, Familienstand, Beruf …
  • Produkterwartungen …

Den Kosmos in der Bushaltestelle zu sehen: Das heißt, das gesamte menschliche Potenzial im Kunden nicht zu unterschätzen. Das heißt: Den Menschen ernst nehmen, nicht allein den Kunden. Das heißt, ihn nicht vorn Vorneherein zu täuschen und zu enttäuschen: Nichts zu versprechen, so unerreichbar wie ein Leben auf dem Mars. Der Kunde ist immer im Aufbruch, auf dem Sprung: Auch zu anderen Anbietern.

In-Authentizität: Das ist ein Grundgefühl heute, und es ist das gute Recht als Menschen und als Kunden, in-authentisch zu sein. Man muss uns das Recht zugestehen, in-authentisch, inkonsequent, radikal, anders als erwartet zu sein. Die viel zitierte „authentische Buyer Personsa“ (z.b.hier)  greift vielleicht doch zu kurz.

Es ist eine große Kunst, seinem Publikum auf Augenhöhe zu begegnen, ihm durch den Spiegel der Augen in die Labyrinthe und Schlösser der Seele zu sehen und ihn auf dieser Ebene anzusprechen und abzuholen.

Das ist die Aufgabe und Anregung, die wir als Content Marketer von Bowie mitnehmen können. Genauso wie Produktentwickler und Unternehmer.


1: Bildquelle: https://pixabay.com/de/users/SCAPIN-1394388/

2: http://www.art-magazin.de/kunst/7596-rtkl-david-bowie-london-alle-kunst-ist-instabil

3: http://www.theguardian.com/music/2016/jan/18/david-bowie-readers-memories